SCHULE ALS TATORT
Im Vorwort zu ihrem Band Bildungsqualen schreiben Sandra Rademacher und Andreas Wernet:

Die Eltern wissen um die Aussichtslosigkeit der Suche nach einer Schule, die sich an den Bedürfnissen ihrer Kinder orientiert. Sie wissen, dass diese überall der schulischen Unterwerfung ausgesetzt sind. Die Visionäre wissen um den kulturindustriellen Kitsch ihrer Visionen. Bei jeder Gelegenheit sind sie hinter der Bühne dazu bereit, ihre Visionen bzw. diejenigen, die sie ernst nehmen, zu belächeln. Und die Bildungstechnokraten wissen, wahrscheinlich besser als ihre Kritiker, dass ihre elitäre Position sowohl bildungspolitisch als auch forschungslogisch auf Sand gebaut ist. Sie wissen, dass das politische und öffentliche Gehör, das sie finden, sich ebenso schnell verflüchtigen kann, wie es gekommen ist und sie wissen, dass sowohl die wissenschaftliche Reputation als auch die Dignität der Erkenntnis allenfalls lose mit ökonomischen Ressourcen und Rankings gekoppelt sind. Das Unbehagen ist flächendeckend ...

Schindlers Beitrag zu dieser Publikation - zu Ehren Elisabet Flitners - unter dem Titel Schule als Tatort thematisiert kaum ernst genommene visuelle Erscheinungen von Schule. In ihrer Sinnstruktur rekonstruiert, erlauben sie ungeahnt erhellende Einbicke in das, was Schule (auch) ist:

Zeichen der Zeit.
Die Zeichen an Wänden, Toilettentüren, Garderoben und Kanten der Schulbänke sind nicht nur Gesten der Besudelung und Verunreinigung, nicht nur Gesten der demütigenden Inbesitznahme fremden Eigentums. Vielmehr verkörpern diese Zeichen das Aufblitzen einer Zeit. Einer Zeit, die sich qualitativ unterscheidet von derjenigen, die sonst in der Schule gilt. Sie sind unmittelbare Artikulation einer » sich herausgenommenen « Zeit, einer Zeit, die aktiv angeeignet ist. In beiläufig einfacher Geste bedient sie sich der Inschrift, um ihr Sein zu bestätigen. Ungeachtet des Inhalts sind diese Zahlen oder Herzen, Friedenszeichen, Namen oder » Ich liebe Dich « Hinterlassenschaft einer Auszeit, die sich kaum mehr gestattet, als die Spur ihrer selbst zu zeichnen. In dieser Bescheidenheit liegt die Demonstration einer beängstigenden Tatsache: Heraustreten aus gewohnten Abläufen ist auch an diesem Ort leicht und jederzeit möglich. Dem mag sich dann ... S.13

Beschriftet, bespielt, bespuckt und gebohrt – Schule als Angriffsziel ?
In manchen Schulen findet sich Spucke an Fensterscheiben und Kaugummi achtlos auf den Boden gespuckt. Die entschuldigende Beobachtung » Einzelne tun so was nicht « hilft im Bemühen um Verständnis nicht weiter, und der Hinweis darauf, Schüler verstehen doch selbst nicht, warum sie das tun, entbindet nicht darüber nachzudenken und genauer hinzusehen. Der Kommentar » das sei nun mal gerade cool bei Kindern und Jugendlichen « ist keine Erklärung. Aber er benennt was zu klären wäre: Wie überhaupt kann Spucken als cool gelten ? Was macht die Geste geeignet für Coolness ? Was ist ihr Bedeutungspotential das im Tun aktualisiert wird? ... S.16

Erniedrigt, gedemütigt, belästigt – Schule als Täter
Aus medizinischen Gründen, hieß es in einer Schulkonferenz an einem Gymnasium, sei es dringend geboten, die Vorhänge an der Glaswand des sogenannten Krankenzimmers abzunehmen, um die Kranken beobachten zu können. Anstelle einer Begleitung der bedürftigen Kinder durch andere Schüler, müsse eine Videoüberwachung installiert werden. Abgesehen von hohen Kosten (die sonst doch immer ins Feld geführt werden), abgesehen auch davon, dass kaum sichergestellt werden kann, dass eine Aufsichtsperson an anderem Ort (im Rektorat, im Sekretariat oder beim Hausmeister) tatsächlich das Monitorbild im Auge hat, um rechtzeitig zu erkennen » wenn ein krankes Kind kollabiert «, ist nur schwer nachvollziehbar, dass ausgerechnet an einer Schule, absichtlich und ohne Not, eine zwischenmenschliche Beziehung (nämlich die einer Begleitperson und einem Kranken) durch eine technische Überwachungseinrichtung ersetzt werden soll. Eine ästhetisch anspruchsvolle und mit Rücksicht auf die Wünsche der Schüler ... S.18

Hinzufügungen als Aneignungen
Kinder kommen zum Analytiker, bemerkte Françoise Dolto einmal, » um in der Wahrheit zu sprechen. « In die Schule werden sie geschickt, um die Wahrheit zu erfahren. Aber jeder Pädagogik, notiert Adorno, wohnt ein Moment der Unwahrheit inne. Jede Pädagogik ist mit einem Moment von Unwahrheit geschlagen, weil sie sich an jemanden wendet, weil sie verstanden wissen will und also nicht allein der Sache verpflichtet ist, um die es geht. Und Adorno schließt die Vermutung an, dass vielleicht genau deshalb auch viele Schüler so ungern in die Schule gehen, weil sie genau das spüren. Dass sie fühlen, dass man ihnen, mit angeblicher Rücksicht auf ihre Unkenntnis, mit Rücksicht darauf, was man für fassbar und zuträglich hält, nur die halbe Wahrheit sagt ... S.20

Umnutzungen. Schüler sitzen
Eine zentral auffällige Umnutzung ist das Sitzen der Schülerinnen und Schüler auf der Treppe im Eingangsbereich – aber nicht nur dort. Offiziell ist das nicht erwünscht: Es ist form- und stillos und macht auch für Besucher keinen guten Eindruck. In einer Schulkonferenz wurde denn auch bekannt gegeben, dass eine geeignete Absperrkette bereits bestellt und gekauft werden wird. Gleichzeitig drängeln sich Schüler im neuen Aufenthaltsraum und finden sich kaum noch unaufgefordert bereit, in den Pausenhof » an die frische Luft « zu gehen. Diesen Bildern ist zu allererst der Aufforderungscharakter des Raumes zu entnehmen: er präsentiert sich groß und weitläufig. Die Schülerinnen sitzen auf dem ... S.24

Exkurs – Zwei prominente Darstellungen aus der Kunstgeschichte
Eine der gewaltigsten, weil folgenreichsten Neuerungen der Kunstgeschichte war das Pissoir von Marcel Duchamp, eine der Höhepunkte der Documenta IX, war die Toilette von Ilja Kabakow. Das wird kein Zufall sein. Ort und Umstände natürlichster Hervorbringung ... S.32

Lehrertoiletten - Verpersönlichung. Privatisierung. Verschönerung
Solche Verschönerung ist keine. Sie bringt in erträglicher Form vor die Augen der Damen (nicht der Herren), was sonst unsichtbar geblieben wäre. Aber so, wie das geschieht, hält sich das System am Leben, gegen das sich zu wehren diese » Verschönerung « bloß vorgibt – statt tatsächlich zu verändern. Das Leiden an diesem System aber ist, nach Lacan und Žižek, offenbar ein Mehr-Genießen: ein Genuss, der sich dem Mangel verdankt, den er beklagt. Ein Genuss, der darum auch am Mangel festhält und letztlich in ihm allein den Garant des eigenen Begehrens erkennt – das heißt sich trotz aller Widrigkeiten lebendig – das heißt begehrend – zu erfahren. Dass dem so ist, bestätigt vielleicht nichts präziser als alle Signaturen in öffentlichen Toiletten der Welt: Überall nämlich finden sich genau an diesen Orten Inschriften, zeichenhafte Kürzel oder selbst gebohrte Gucklöcher ins Jenseits, die von nie erlahmendem Begehren und dessen Genuss zeugen. Denn Genuss am Mangel ist Mehr-Genießen. Ist die Damentoilette also zu dem Schauplatz ... S.38

Richard Schindler: Schule als Tatort. In Sandra Rademacher, Andreas Wernet (Hrsg.), Bildungsqualen: Kritische Einwürfe wider den pädagogischen Zeitgeist. Springer Fachmedien Wiesbaden 2014. S. 13 - 40