VISUAL PROFILING
Künstlerische Handlungsfelder und visuelle Ressourcen in Unternehmen, Institutionen und anderswo
Je mehr sich Produkte durch High-tech-Standards der Produktion einander angleichen, umso wichtiger werden für den Markt ihre dann nur noch symbolisch zu markierenden Differenzen. Ähnliches trifft auch auf die Unternehmen selbst zu: Ihr Markterfolg ist wesentlich davon abhängig, ob und wie die innere und äussere Unternehmenskommunikation gelingt. Aber in den Visualisierungen von Marken und Unternehmenskonzepten realisiert sich auch eine nicht intendierte und unter Umständen kontraproduktive Bedeutungsstruktur. Die sogenannten Marken- oder Unternehmensimages sind tatsächliche Bilder. Sie können künstlerisch analysiert und nachvollziehbar rekonstruiert werden. Diese Zusammenhänge sind Thema dieses Bandes.

Künstlerische Erfahrung lehrt, dass die sichtbare Oberfläche der Dinge ihre ganze Wahrheit ist und nichts verbirgt. Der Band macht die These plausibel, dass es jenseits beabsichtigter und unbeabsichtigter visueller Botschaften eine fundierende bildnerische Bedeutung der artifiziellen Dinge gibt. Und er benennt Gründe dafür, warum sie nicht wahrgenommen wird.

Das künstlerische Verfahren visuell realisierte Sinnstrukturen offenzulegen hat der Autor Visual Profiling (VP) genannt. Visual Profiling bedeutet eine Ausweitung traditioneller künstlerischer Handlungsfelder und zielt auf eine neue Möglichkeit der Kooperationen von Kunst, sozialen Einrichtungen und Wirtschaftsunternehmen – jenseits von Sponsoring und unternehmerischer Sammlertätigkeit. Visual Profiling ist entscheidende Voraussetzung für eine effiziente und verantwortete Entwicklung visueller Ressourcen – in Unternehmen, Institutionen und anderswo.

Der Begriff Visual Profiling wurde analog zu Crime Profiling gebildet. Crime Profiling ist ein Fachbegriff der gerichtlichen Praxis. Er bezeichnet die spezifische kriminalistische Ermittlungstätigkeit der sogenannten Profiler, die anhand einer gegebenen Spurenlage ein Täterprofil erstellen. Entsprechend erstellt ein Visual Profiler ein bildnerisches Strukturprofil anhand des visuell Wahrnehmbaren: in Unternehmen, Institutionen oder im Alltag.

Schindler, Richard: Visual Profiling (deutsch/englisch)
Jena: IKS Garamond, 2001, zahlreiche farbige Abb., ISBN 3-934601-33-2

Aus dem Inhalt

Katzenaugen

Weil sie auch Nachts zu sehen sind, heißen sie Katzenaugen. In der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts wurden sie von Deutschland aus nach Südamerika exportiert. Mit nur mäßigem Erfolg, wie der Hersteller beklagt. Die Reflektoren wurden an den Straßenrändern installiert – wie an den Autobahnen hierzulande auch – aber die einheimische Bevölkerung demontierte die glitzernden Objekte. Sie wurden als Schmuck am Körper getragen.

Die gängige Interpretation dieses erstaunlichen Vorgangs verweist auf die unterschiedlichen kulturellen Hintergründe von Export- und Importland. Offenbar hatten die Angehörigen der uns fremden Kultur Sinn und Zweck des neuen Produkts nicht verstanden: Das Fallbeispiel ist ein Beleg für die Macht unterschiedlicher symbolischer Standards, die zu berücksichtigen das Exportunternehmen versäumt hatte. Zeitgemäßes Kommunikations- und Knowledge-Management oder Cultural Theory hätten für den fälligen Wissenstransfer Sorge getragen und nahegelegt, Mitarbeiter, Händler und Kunden entsprechend auf das Produkt vorzubereiten. Die Markteinführung eines neuen Produkts kann nicht gelingen, wenn den Beteiligten verborgen bleibt, wozu das Neue überhaupt gut ist.

Doch diese Deutung verkennt Wesentliches und führt in die Irre. Ähnlich übrigens, wie jener populäre Kurzschluss, der dieses Beispiel als Beweis dafür verbucht, dass der Sinn einer Sache eben kulturell vermittelt und nicht universal verstanden werden könne. Tatsächlich ist der Gebrauch der Reflektoren, den die Menschen in Südamerika gemacht haben, keineswegs so überraschend oder gar abwegig, wie es scheinen mag. Unfehlbar – und sofort – haben sie die Sinnstruktur dieser unbekannten „Dinger“ erkannt: nämlich Gefahr abzuwenden. Schmuck zu tragen ist in allen Kulturen und seit alters her als probates Mittel angesehen worden, Schaden fernzuhalten. Und aus keinem anderen Grunde gibt es Katzenaugen an unseren Straßen. Auch wenn die erwartete Gefahr eine andere sein mag, es geht hier wie dort ums Ganze, um Leben oder Sterben. Der Ausdruck ‚Katzenauge' erinnert selbst schon (oder noch?) an den ‚bösen Blick', dem der ‚gute Blick' des Schmucks entgegenblickt. Funkelnde Schönheit als Versprechen behüteten Lebens.

Kein kulturell bedingtes Missverständnis der einheimischen Bevölkerung also, kein mangelndes Wissen ungebildeter Lateinamerikaner liegt dem fehlgegangenen Exportgeschäft zu Grunde. Das Missverständnis liegt auf Seiten der Interpreten, die sich allein auf den beabsichtigten Zweck ihres Geschäfts konzentrieren und darüber das visuelle Potential ihrer Ware nicht ernst nehmen und die Sinnstruktur ihrer Erscheinung nicht verstehen. In der Nutzungs- und Gebrauchsfunktion eines Produkts ebenso wie im intendierten Image eines Unternehmens steckt eine oft unbeabsichtigte, aber immer vorhandene symbolische Bedeutungsstruktur, die auf universaler Ebene wirkt. Ich möchte nicht leugnen, dass es lokale Bedeutung gibt, aber hinzufügen, dass diese lokalen Auslegungen sich an eine objektive Qualität heften, die universal zu rekonstruieren ist. Sie zu vernachlässigen kann sich geschäftshindernd auswirken – ohne dass überhaupt geahnt wird, wo der Hase im Pfeffer liegt.

Public Eye

Mittlerweile ist in zeitgenössischer Unternehmenstheorie und -praxis die wachsende Bedeutung sogenannter ‚Soft-Factors' (Human Resources, Knowledge etc.) unbestritten. Darüber hinaus sind Organisationen der Zukunft auf symbolische Bedeutung und Kommunikation angewiesen, wenn sie Identitätsmarkierungen generieren wollen und müssen. Um zukünftig bestehen und überleben zu können, müssen Unternehmen, so eine weitere Einsicht, über sich selbst informiert sein. Aber selbst in avancierten Theorien unternehmerischen Handelns, die von einem hohen Bewusstsein ‚verborgener Potentiale' ausgehen, wird nicht Ernst gemacht mit den Einsichten, die gewonnen sind. Und die naheliegenden Möglichkeiten, Aufschluss über sich selbst zu erhalten, werden nicht genutzt.

In dem eben erst erschienen Band: „Verborgene Potentiale. Was Unternehmen wirklich wert sind“, spricht Georg Elwert warnend von einer ästhetischen Firmenfassade, hinter der sich Strukturen verbergen können. Der schöne Schein, den ein Unternehmen nach außen aufrichtet, könne unangenehme Wahrheiten verbergen und auf gefährliche Art und Weise das Unternehmen selbst bluffen. Die „ästhetische Strategie“ führe dazu, das eigene „Leben nach dem Bild für die Fremden“ zu stilisieren. Und wo diese Strategie zur Stabilisierung von Macht eingesetzt wird, könne es passieren, „dass die geheimen magischen Mittel“, als Trug erfahren werden und „aus der Stärke Lächerlichkeit oder Schande“ wird. Mitarbeiter der Firma erfahren in so einem Fall die Diskrepanz zwischen dem schönen Schein für die Anderen draußen und ihrem eigenen täglichen Sein drinnen. Wie sollen sie sich ernsthaft mit dem Unternehmen identifizieren können, wenn sie ‚ihre Firma' als unwahr erleben?

Diese (Fehl)Einschätzung der Fassade und des schönen Scheins entsteht dadurch, dass das Sichtbare – wie im Beispiel der Katzenaugen – nicht ernst genug genommen wird. Tatsächlich ist das Sichtbare immer ein gültiger Ausdruck der sich in ihm realisierenden Sinnstrukturen. Die Fassade ist nie nur Fassade. So wenig, wie die Maske nur Maske ist. Was sich hinter der Fassade verbirgt, sind keine ganz anderen Wahrheiten, sondern die Weigerung sehen zu wollen. Nicht, wenn die Fassade als Trug erkannt wird, wird Stärke zur Lächerlichkeit oder Schande, sondern wenn plötzlich erfahren wird, dass die Fassade gar keine Fassade ist, sondern Wahrheit. Dann ist es plötzlich nicht mehr möglich, die als bloße Fassade verstandene Lüge zu entschuldigen. Die Einsicht setzt sich durch, dass man die Wahrheit vor Augen hatte, sie aber nicht wahr haben wollte.

Um ein Mädchen vom Lande zu verführen, veranstaltet Casanova einen Hokuspokus mit seinen ‚übernatürlichen Kräften’. Er zeichnet einen ‚magischen' Kreis auf den Boden. Kaum ist der Kreis vollendet, bricht ein Gewitter los. Der ‚Meister’ erschrickt und springt flüchtend selbst in seinen Kreis. – Im entscheidenden Augenblick war die Macht des Zeichens stärker als das aufgeklärte Bewusstsein des Verführers. Kaum war der Zirkel geschlagen, wurde seine Kraft wirksam und entmachtete das bessere Wissen des Helden. In diesem Sinne wirken ‚bloße Fassaden’. Was vielleicht als Schein oder Bluff gedacht war, ist keiner. Bilder sind wahr.